
No. 15 – das Betthupferl aus Folge #15
31. März 2025
No. 17 – das Betthupferl aus Folge #17
28. April 2025No. 16 - Das Betthupferl aus Folge #16
Von Catherine Faber
Sebastian sitzt aufrecht wie ein Soldat im Kerzenlicht.
Die Tischdecke ist weiß, das Besteck glänzt, und irgendwo plätschert leise Jazzmusik aus einem Lautsprecher. Vor ihm dampft ein Teller mit Hühnerbrust in Estragonsauce und gebackenen Drillingen. Es duftet köstlich.
Karin nippt genüsslich an ihrem Riesling. Elegant. Mühelos. So wie sie es immer tut, wenn sie in einem Restaurant sitzt, in dem das Wort Schaumreduktion mindestens dreimal auf der Speisekarte steht.
„Wir brauchen mal wieder ein bisschen Zeit zu zweit,“ hatte sie verkündet, bevor sie zum Hörer griff, um einen Tisch im feinsten Restaurant der Stadt zu reservieren. Seitdem schlug Sebastians Herz fast doppelt so schnell wie sonst. Ein Essen, auswärts, also unter Zeugen, war gerade nichts, was er sich wünschte. Lieber wäre er für einen Monat ins Schweigekloster gegangen. Aber es half alles nichts.
Die Ereignisse der letzten Wochen liegen schwer auf seinen Schultern, er seufzt. Was kann schon schlimmer sein, als unfreiwillig nackt im Fitnessstudio zu trainieren, oder den morgendlichen Toilettengang haarklein kommentiert zu bekommen?
Sebastian schwitzt. Nicht nur, weil es hier warm ist. Sondern weil er spürt, dass Snørre mit Sicherheit irgendwo im Restaurant lauert. Im Brotkorb? Im Kellner? Im Korkenzieher? Ganz egal, was er wieder ausheckt, für Sebastian wird es mit Sicherheit wieder mehr als unangenehm.
„Du bist heute so… angespannt“, sagt Karin, während sie eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen hebt.
„Ich? Ach was“, nuschelt Sebastian und versucht, die Serviette unauffällig vom Schoß auf seinen Oberkörper zu verlagern. Man kann ja nie wissen.
„Was hast du heute so gemacht?“ fragt sie.
Gute Frage. Er hatte sich heute nämlich versteckt, das Haus nicht verlassen, eine Abstellgenehmigung für Pakete beauftragt, um diese nicht mehr selbst annehmen zu müssen. Auch die Kündigung fürs Fitnessstudio hatte er geschrieben und per E-Mail versendet. Dort konnte er sich nach der Aktion letztens ja wohl kaum noch blicken lassen.
„Ein bisschen Papierkram“, sagt er. „Ganz harmlos.“
„Papierkram also“, wiederholt Karin skeptisch.
„HÜ-HÜ-HÜHNCHEN!!!“
Die Stimme schießt durch seinen Kopf wie ein Stromschlag. Snørre. Sebastian zuckt so heftig zusammen, dass sein Messer vom Teller rutscht und mit einem metallischen Klong auf dem Boden landet.
Karin blinzelt. „Geht’s dir gut?“
„Ja. Alles bestens.“ Er hebt das Messer auf und versucht dabei, so wenig Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zu ziehen, wie nur möglich.
„Okay…“ Karins Stimme klingt trocken. Sie schiebt sich eine Gabel voll Hühnerbrust in den Mund. Sebastian starrt auf sein Essen. Bitte nicht jetzt. Bitte. Nicht. Jetzt.
„Sebastian…“, Snørres Stimme säuselt wie ein nerviger Windhauch durch seine Gedanken. „Weißt du, was super peinlich wäre? Wenn du jetzt ganz laut Kikeriki machst und dann einfach vom Stuhl fällst.“
Nein. Nein. Nein.
„Oder! Noch besser! Du nimmst ein Stück Hühnchen, legst es dir auf die Stirn und sagst: Ich nehme diese Mahlzeit mit auf meine spirituelle Reise.“ Er kichert.
Sebastian beißt die Zähne zusammen. Er spürt, wie sein Gesicht heiß wird. Ein Nerv zuckt unter seinem linken Auge. Er weiß, dass Snørre nicht nachgeben wird.
„Sebastian…?“ fragt Karin vorsichtig. "Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“
Er nickt. Zu schnell.
„Ganz hervorragend! Ich bin… geistig total anwesend. Und körperlich sowieso.“
Karin hebt eine Augenbraue. „Du schwitzt.“
„Sag’s, oder ich mach’s schlimmer“, raunt Snørre, der wohl immer noch in Sebastians Messer steckt. Sebastian starrt sein Huhn an. Das Fleisch glänzt in der Sauce, als wüsste es genau, was gleich passieren wird. Karin beobachtet ihn mit wachsender Sorge, als Sebastian mit der Gabel ein Stückchen Huhn aufspießt, den Kopf in den Nacken legt und den Leckerbissen auf seiner Stirn platziert.Er öffnet den Mund.
„Ich nehme diese Mahlzeit mit auf meine spirituelle Reise.“
Karins Augen weiten sich. Ungläubig, verwirrt und sichtlich beunruhigt starrt sie ihren Mann an – und sie ist nicht die einzige. Zahlreiche Gäste an den Nebentischen beobachten das Spektakel ebenfalls – mit wachsender Belustigung.
Sebastian hält es nicht mehr aus. Mit knallrotem Kopf und einem letzten entschuldigenden Nicken in Richtung Karin steht er auf und stolpert durch das Restaurant in Richtung der Toiletten. Sein Stirnhuhn liegt noch halb zerdrückt auf der Serviette, die er beim Aufstehen vom Schoß fegt.
Er wirft sich regelrecht in die erste freie Kabine, verriegelt die Tür und setzt sich auf den Klodeckel. Die kühlen Fliesen, der schwache Geruch von Raumspray, das Flackern der Neonlampe, das leise Tropfen eines undichten Wasserhahns – alles ist besser als draußen.
„Ich. Bringe. Dich. Um“, zischt er.
„Buhuhuhuuuh“, tönt Snørre dramatisch aus dem Klorollenhalter. „Die Wahrheit kommt nicht durch Mord, mein lieber Sebastian. Sie kommt durch Scham. Und du warst gerade wunderbar peinlich. Ich bin so stolz auf dich!“
„Wenn du stolz bist, krieg ich Angst.“
Er reibt sich die Stirn. Und dann passiert es. Mit einem Mal verändert sich die Atmosphäre im Raum. Das Neonlichtflackern verstummt, das Tropfen hört auf. Alles wird dumpf – als würde jemand Watte in seine Ohren stopfen. Sebastian blinzelt. Die grauen Fliesen vor ihm flimmern. Dann verändern sie sich. Werden zu etwas anderem. Zu Pergament.
Eine alte, vergilbte Landkarte zeichnet sich auf den Wänden ab – ungenau, grob, mit seltsamen Symbolen. Hügel, Wege, Wälder. Linien, Kreise, Kringel. Und dann, ganz klar und deutlich:
Ein rotes Kreuz. Mitten in den Bergen.
Ein Name steht daneben, geschwungen und in blasser Tinte: Wendelstein.
Sebastian starrt ungläubig auf die Karte. Er kennt den Wendelstein. Ein markanter Gipfel, nicht weit von München. Ein beliebtes Ausflugsziel mit Zahnradbahn und Wanderwegen. Aber warum erscheint ausgerechnet dieser Ort jetzt in seinem Kopf?
„Das ist es“, murmelt er. „Das ist der nächste Hinweis, oder?“
Keine Antwort. Snørre schweigt. Zum ersten Mal. Sebastian steht langsam auf, als hätte sich die Schwerkraft verändert. Die Karte verblasst, die Fliesen kehren zurück. Die Toilette riecht wieder nach Lavendel und Desinfektionsmittel.
Der Wendelstein also.